Donnerstag, 31. Juli 2014

Sich beklagen und sich ärgern - Eckhart Tolle

Sich beklagen und sich ärgern

Sich beklagen ist eine der Lieblingsstrategien des Ego, um sich selbst zu bestärken. Jede Klage ist eine kleine Geschichte, die der Verstand erfindet und die du rückhaltlos glaubst. Es ist kein Unterschied, ob du dich laut beklagst oder nur in Gedanken. Manche Egos, die sonst vielleicht nicht viel haben, womit sie sich identifizieren könnten, leben einfach vom Klagen. Wenn dich ein solches Ego im Griff hat, wird das Klagen, besonders über andere Leute, zur Gewohnheit - natürlich unbewusst, das heißt, du weißt nicht, was du tust. Seine Mitmenschen mental mit negativen Etiketten zu versehen, entweder in der unmittelbaren Begegnung oder, wie es häufiger vorkommt, indem man mit anderen über sie spricht oder auch nur an sie denkt, ist meist Teil dieses Musters. Schimpfnamen sind die übelste Form einer solchen Etikettierung und des Ego-Bedürfnisses, Recht zu behalten und über andere zu triumphieren: »Dummkopf, Mistkerl, Schlampe«, das alles sind Beurteilungen, an denen man nicht rütteln darf. Auf der nächsttieferen Stufe der Unbewusstheit wird geschimpft und geschrien, und noch ein bisschen tiefer kommt es zur physischen Gewaltanwendung.

Die Empfindung, die mit dem Klagen und der Etikettierung anderer einhergeht und die dem Ego noch mehr Energie zuführt, ist der Ärger. Ärger bedeutet, erbost, entrüstet, gekränkt oder verletzt zu sein.  Du ärgerst dich über die Gier, die Unehrlichkeit oder die Unanständigkeit anderer, über das, was sie tun, was sie getan oder nicht getan haben, was sie gesagt haben, was sie hätten tun oder lassen sollen. Das mag das Ego. 
Statt über die Unbewusstheit anderer hinwegzusehen, machst du sie zu deren Identität.
Wer tut das?
Die Unbewusstheit in dir selbst, das Ego. Manchmal existiert der »Makel«, den du bei anderen wahrnimmst, gar nicht. Er ist bloß eine totale Fehlinterpretation deinerseits, die Projektion eines Denkens, das so konditioniert ist, dass es Gegner sieht, damit du dich ins Recht setzen oder überlegen fühlen kannst.

Bisweilen mag tatsächlich ein Fehler vorhanden sein, aber wenn du dich darauf konzentrierst und vielleicht sogar für nichts anderes mehr Augen hast, verstärkst du ihn nur. Und auf was du bei anderen reagierst, stärkst du in dir selbst.

Nicht auf das Ego anderer zu reagieren ist eines der besten Mittel, um zum einen über das Ego in dir selbst hinauszugehen, und zum anderen das kollektive menschliche Ego aufzulösen.

Den Zustand des Nichtreagierens erreichst du jedoch nur, wenn du das Verhalten einer anderen Person als egobezogen erkennst, als Ausdruck der kollektiven Gestörtheit des Menschen. Wenn du erkennst, dass es nichts Persönliches ist, entfällt auch der Zwang, darauf zu reagieren, als ob es etwas Persönliches wäre.

Dadurch, dass du nicht auf das Ego reagierst, kannst du anderen zu geistiger Gesundheit verhelfen, zu unkonditionierter Bewusstheit, die dem konditionierten Denken entgegengesetzt ist. Ab und zu musst du vielleicht praktische Schritte unternehmen, um dich vor zutiefst unbewussten Leuten zu schützen. Das kannst du aber tun, ohne sie dir zu Feinden zu machen. Dein größter Schutz ist allerdings die Bewusstheit. Jemand wird dein Feind, wenn du das Unbewusste, also das Ego, personalisierst.
Nicht zu reagieren ist keine Schwäche, sondern Stärke.

Ein anderes Wort für Nichtreagieren ist Vergebung.
Vergeben heißt, über etwas hinwegzusehen oder vielmehr durch es hindurchzuschauen. Du schaust durch das Ego hindurch auf die geistige Gesundheit, die das Wesen eines jeden Menschen bildet.

Das Ego beklagt sich gern und reagiert mit Ärger nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf Situationen. Was du mit einer Person anstellen kannst, gelingt dir auch mit einer Situation: Du kannst sie dir zum Feind machen. Der Grundtenor ist immer der Gleiche: Das dürfte eigentlich gar nicht passieren; ich will nicht hier sein; ich möchte das nicht tun; ich werde ungerecht behandelt. Und der größte Feind des Ego ist natürlich der gegenwärtige Augenblick, also das Leben selbst.

Sich zu beklagen ist etwas anderes, als jemanden auf einen Fehler oder Makel aufmerksam zu machen, der berichtigt werden kann. Und nicht zu klagen heißt nicht unbedingt, sich mit einer schlechten Qualität oder schlechtem Benehmen zufrieden zu geben. Es ist nichts Egoistisches daran, einem Kellner zu sagen, dass die Suppe kalt ist und aufgewärmt werden muss - sofern du dich an die Fakten hältst, die immer neutral sind.

»Wie können Sie es wagen, mir kalte Suppe zu servieren!«, ist eine Beschwerde.
Hier ist ein »Ich« im Spiel, das die kalte Suppe nur zu gern als persönliche Beleidigung betrachtet und einen großen Wirbel darum macht, ein »Ich«, das seine Freude daran hat, jemanden ins Unrecht zu setzen. Das Klagen, von dem wir hier sprechen, dient nicht der Veränderung, sondern dem Ego.
Manchmal wird es recht deutlich, dass das Ego sich im Grunde nicht verändern möchte, damit es sich weiter beschweren kann.

Probier einmal, die Stimme im Kopf in dem Augenblick zu erwischen bzw. wahrzunehmen, in dem sie sich über etwas beklagt, und sie als das zu erkennen, was sie ist: die Stimme des Ego, nichts weiter als ein konditioniertes Denkmuster, ein Gedanke. Wann immer du diese Stimme wahrnimmst, wird dir auch aufgehen, dass du nicht die Stimme bist, sondern derjenige, der sich ihrer bewusst ist. Tatsächlich bist du die Bewusstheit, die sich der Stimme bewusst ist. Im Hintergrund ist Bewusstheit. Im Vordergrund ist die Stimme, der Denker. Auf diese Weise befreist du dich allmählich vom Ego, vom unbeobachteten Denken.

In dem Moment, in dem du dir des Ego in dir bewusst wirst, ist es genau genommen gar kein 
Ego mehr, sondern nur ein altes, konditioniertes Denkmuster. Das Ego speist sich aus Unbewusstheit.Bewusstheit und Ego schließen sich gegenseitig aus.
Das alte Denkmuster, die geistige Gewohnheit, mag noch eine Weile bestehen bleiben und ab und zu wiederkehren, weil es die Schubkraft jahrtausendelanger kollektiver menschlicher Unbewusstheit im Nacken hat, aber jedes Mal, wenn dies erkannt wird, wird es ein wenig schwächer.

Eckhart Tolle – Eine neue Erde


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